Kurzgeschichte zum Nikolaus

„Jennifer?“, blinzelte Jonathan verdutzt, als er mich in der Tür erblickte.  „Was machst du hier? Wie bist du hier überhaupt hingekommen?“

Ich raffte etwas an meinem gemütlichen, allerdings viel zu großen Schal, damit ich ungehindert sprechen konnte und lächelte: „Naja, ich habe mir gedacht, dass wir vielleicht ei-“

„Abgelehnt.“ Ohne mich auch nur zu Ende angehört zu haben, verschränkte er die Arme und schüttelte mit zusammengezogenen Augenbrauen den Kopf.

„A-aber ich habe eine gute Idee“, versuchte ich meinen Vorschlag zu verteidigen und trat weiter in das warme Büro seines Großvaters, dem Direktor des Alt-Historischen Museums ein.
„Ohne Vorbereitung händige ich dir die Uhr nicht aus“, sagte er ruhig. „Wäre mein Großvater hier, würde er dich sofort wegschicken.“

„Aber er ist nicht hier und es ist wirklich keine große Sache“, versuchte ich es weiter und ließ nicht locker. Ich schloss hinter mit die Tür und lief eingepackt in Mantel und mit einer Tasche um den Schultern zu dem Schreibtisch, hinter dem mein Freund saß. Prüfend schaute er mich mit seinen grünen Augen an und rückte seine Brille mit dem dicken Rahmen zurecht.

„Bis du aus Versehen den Lauf der Geschichte veränderst. Keine große Sache.“ Seine Stimme hatte einen verhöhnenden Unterton, obwohl das, was er sagte, keineswegs unberechtigt war.
„Lass mich doch ausreden!“, wiederholte ich mich und begann in meiner Tasche zu wühlen. „Wir werden den Lauf nicht verändern, ich ha-“

„Kostüme?“, unterbrach er mich erneut und erhob sich von dem Drehstuhl. Überrascht schaute ich ihn an, ehe ich die Sachen aus der Tasche gefriemelt hatte. „Äh, naja… ja“, lächelte ich ertappt. „Aber ich würde das so gerne sehen!“

„Was sehen?“ Seine Arme wieder mal verschränkt schaute er mich mit seinem kühlen und prüfenden Blick an. Wenn du mich hättest ausreden lassen, wüsstest du es schon längst, dachte ich etwas genervt, sprach diese Worte jedoch nicht aus. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn so eine Bemerkung total kalt lassen würde.

„Naja, den Nikolaus“, lächelte ich stattdessen. Er antwortete mit einem unterdrückten Auflachen. Verärgert blickte ich ihn an, während er sich die Hand vor dem Mund hielt und in sich hinein lachte. „Was ist daran so lustig?“, zog ich meine Augenbrauen hoch und schob meine Unterlippe etwas vor. „Würdest du nicht gerne wissen, was es wirklich mit ihm auf sich hat?“

„Nicht wirklich“, meinte er schmunzelnd, nachdem er sich etwas beruhigt hatte und lockerte seine vorher so steife Haltung. „Ich finde den Nikolaus ungefähr so spannend wie den Weihnachtsmann oder das Osterhäschen. Wahrscheinlich denkst du auch noch, dass es den fetten Mann mit dem roten Anzug und dem weißen Bart wirklich gibt und er an Heiligabend in die Kamine in aller Welt steigt, um den braven Kindern Geschenke zu bringen. Und zu den bösen kommt der Knecht Ruprecht.“ Wiedermal begann er mich zu verhöhnen und musste sich daraufhin ein erneutes Schmunzeln verkneifen.

„Manchmal hasse ich dich“, murmelte ich genervt und machte mich auf, meinen Schal wieder etwas höher zu ziehen. „Wenn das so lustig ist, dann haue ich jetzt ab. Viel Spaß noch alleine.“
Kurz bevor ich aus der Tür war, vernahm ich ein „Hmm“ hinter mir. Und als ich einen Blick nach Hinten warf, sah ich, wie Jonathan an den Tresor schritt und dabei war die Taschenuhr herauszuholen.
Ich drehte mich um und schloss die Tür. „Also willst du es doch wissen?“, rief ich erfreut.

„Eine Stunde“, stellte er klar, während er die Schatulle mit der Uhr auf den Tisch stellte. „Länger werden wir nicht bleiben. Verstanden?“

Leise jubelnd und lachend kam ich wieder zurück in die Stube, lud meinen Rucksack ab und entledigte mich meines Mantels. „Ich habe hier zwei Kapuzenmäntel, die Akane mir mal mitgegeben hat. Sie sehen etwas zerschlissen aus, also werden wir wohl nicht auffallen“, erklärte ich zufrieden und zog die besagten Kapuzenmäntel aus meiner Tasche.
Schweigend stand Jonathan vor einem der Regale und schien etwas zu suchen. Ich warf mir den Mantel um und schaute fragend zu ihm: „Was suchst du?“

„Die richtige Karte. Wann lebte dieser Nikolaus nochmal?“, fragte er, woraufhin ich ein breites Grinsen aufsetzte.
„Aha. Also gibt es doch etwas, das du nicht weißt, du Geschichtsgenie!“, versetzte ich siegessicher und mit schelmischen Grinsen. Dieses Mal habe ich die Nase vorn , dachte ich zufrieden. Ich werde ihm schon noch beweisen, dass ich mehr Ahnung habe.

Mit einem kurzen, störrischen Blick schaute er zu mir und meinte: „Das denkst auch nur du.“

„Ja, das denke ich“, murmelte ich, woraufhin ich auf seine vorige Frage zurück kam: „So zwischen 280 und 351, ganz sicher ist man sich da aber nicht.“

So zwischen 280-351 ?!“, seine Stimme überschlug sich.  “ Ein bisschen genauer geht’s wohl nicht? Du erwartest doch nun nicht ernsthaft von mir, dass ich auf dieser Informationsgrundlage irgendeine Zeitreise starte. Das wäre ungefähr so bescheuert, wie… “

„Nun atme erst mal tief durch und entspann dich“, fiel ich ihm ins Wort. „Natürlich  habe ich mir meine Gedanken gemacht und unser Ausflug beruht auf ausgiebigen Recherchen meinerseits.“ Ich machte eine kurze Kunstpause.

„Also, ich hatte als Reisedatum an das erste Konzil von Nicäa gedacht. Angeblich ging Nikolaus dort kämpferisch gegen die Lehre des Arianismus vor und dass er deren Verfechter Arius während des Konzils geohrfeigt habe. Auch mit seinem Freund Bischof Theognis von Nicäa führte er heftige Diskussionen.“

„Lassen wir über unserem Zorn die Sonne nicht untergehen“, zitierte Jonathan daraufhin nachdenklich den Satz des Andreas von Kreta, den Vermittler des Nikolaus in diesem Streitfall.

„Ganz genau. Es gibt aber auch noch viele andere Sagen!“

„Zum Beispiel die eines verarmten Mannes, der beabsichtigte, seine drei Töchter zu Prostituierten zu machen, weil er sie mangels Mitgift nicht standesgemäß verheiraten konnte. Der Nikolaus erfuhr von der Notlage und warf in drei aufeinander folgenden Nächten je einen großen Goldklumpen durch das Fenster des Zimmers der drei Jungfrauen. In der dritten Nacht gelang es dem Vater, Nikolaus zu entdecken, ihn nach seinem Namen zu fragen und ihm dafür zu danken“, überlegte mein Freund lächelnd und begann sich dabei an die Tischkante hinter ihm zu lehnen.

„Meine Lieblingssage ist das Kornwunder. Während einer großen Hungersnot erfuhr Nikolaus, dass ein Schiff im Hafen vor Anker lag, das Getreide für den Kaiser in Byzanz geladen hatte. Er bat die Seeleute, einen Teil des Kornes auszuladen, um in der Not zu helfen. Sie wiesen zuerst die Bitte zurück, da das Korn genau abgewogen beim Kaiser abgeliefert werden müsse. Erst als Nikolaus ihnen versprach, dass sie für ihr Entgegenkommen keinen Schaden nehmen würden, stimmten sie zu. Als sie in der Hauptstadt ankamen, stellten sie verwundert fest, dass sich das Gewicht der Ladung trotz der entnommenen Menge nicht verändert hatte. Das in Myra entnommene Korn aber reichte volle zwei Jahre und darüber hinaus noch für die Aussaat“, sagte ich und begann mir während des Erzählens vor meinen Augen den Nikolaus auszumalen, wie er mit den Seeleuten sprach.
Jonathan und ich waren so in den Erzählungen versunken, dass wir gar nicht bemerkten, wie wir uns immer weiter gegenseitig von den verschiedensten Legenden erzählten und uns letztendlich zusammen an dem Schreibtisch sitzend vorfanden. Bis auf einmal die Tür aufging.

Verdutzt blinzelte uns der Direktor an, als er uns erblickte. „Jonathan, Jennifer. Was macht ihr um zu so später Stunde noch hier?“
Als hätte Jonathans Großvater uns gerade bei einem Diebstahl erwischt, schauten wir erschrocken auf und brauchten einen Moment, um uns zu fassen. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es bereits Abend geworden war.

„Wir haben geredet“, brachte ich dann irgendwie hervor. „Ist es schon so spät?“
Fragend schaute ich zu Jonathan, der genauso verwirrt wie ich dreinschaute und wandte mich dann der Uhr neben der Tür des Büros zu. Tatsächlich, es war bereits sechs Uhr.

„Was macht die Taschenuhr da? Und wieso trägst du einen Kapuzenmantel?“, fragte der Direktor dann. „Habt ihr eine Reise gemacht?“

„Wo-„, ich setzte gerade für eine Antwort an, da unterbrach Jonathan mich sofort, stand auf und sagte: „Wir haben sie uns nur nochmal angeschaut und über eine mögliche Reise nachgedacht. Kein Grund zur Besorgnis, Großvater.“

Der Direktor nickte kurz und wandte sich zum Gehen, ergriff daraufhin wieder den Griff der Tür. „Na dann. Schließ bitte ab, wenn du das Büro verlässt.“
Jonathan nickte kurz und verstaute die Schatulle mit der Uhr wieder in dem Tresor. Als die Tür ins Schloss fiel, drehte ich mich auf meinem Stuhl hastig zu ihm und schaute ihn schief an. „Ich glaube, du hattest recht“, murmelte ich dann. „Wir sollten besser nicht dahin reisen. Es macht keinen Sinn einer Legende nachzujagen, von der wir nicht mal das genaue Datum wissen.“

Er wandte seinen Kopf zu mir, sodass sein blondes Haar im Licht der Lampe etwas zu leuchten begannen und verzog seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Wobei ich wiedermal nicht umhin kam zu bemerken, wie einzigartig ich sein seltenes Lächeln empfand.

„Manchmal sind Legenden schöner als die Realität.“

Dies ist ein Crossover zu der Geschichte „Chroniken der Zeit“ auf Wattpad: https://www.wattpad.com/user/Daydreamdrug

 

Kategorien: Advent 2016, Schule

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>